Radu´s Gaming Corner: Digital Masquerade- unsere Identität in Videospielen
Ihr kennt das: bevor man sich in ein umfangreiches Abenteuer stürzt, verbringt man gerne die eine oder andere Stunde damit, seinen Charakter zu erschaffen.
Egal, ob bei einer neuen Dungeons & Dragons Kampagne oder in einem neuen Spiel (z.B. Elder Scrolls Online, Fallout, Dragon´s Dogma, Cyberpunk); bei der Charaktererstellung gibt man sich Mühe, damit man in eine neue Identität schlüpfen kann und die maximale Spielerfahrung rauszuholen. Doch welchen Charakter sollte man erschaffen? Eine persönliche Wunschvorstellung seiner eigenen Persönlichkeit (ein eigenes, perfekteres Spiegelbild), einen Badass (um sich jenseits moralischer Grenzen mal richtig auszutoben) oder vielleicht sogar den perfekten Wunschpartner (eigener, unerfüllter Träume)? Die Möglichkeiten sind endlos, aber die Motivationen sehr interessant; Vorhang auf für unser Special über die digitale Identität.

Bereits seit meinen Anfangstagen beim Pen & Paper bei „Das schwarze Auge“ war die Erstellung eines Charakters eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. In erster Linie habe ich mir einen Tank in Form eines Kriegers, Söldners oder Abenteurers erstellt. Dicke Rüstungen und riesige Schwerter sollte er führen können, stark sein und eventuell noch gut in Redekunst. Alles andere (Magie, Intelligenz oder Geschicklichkeit) war eher nettes Beiwerk. Auf diese Weise habe ich viele Abenteuer überstanden und so habe ich das Prinzip auch bei Hero Quest (immer den Barbaren spielen), der Dark Souls Reihe und vielen anderen Spielen angewendet. Warum also ändern, was sehr gut funktioniert? Das eigentliche Umdenken passierte nach meinem ersten Spieldurchlauf von Skyrim, als ich sowohl eine brutale Kampfmaschine als auch ein geschickter Dieb mit Pfeil und Bogen werden konnte. Schüchtern mal eine neue Fertigkeit aus einem anderen Skilltree ausprobieren machte das Spielerlebnis schon etwas interessanter, ohne auf die Sicherheit meines Tanks zu verzichten. Beim nächsten Spieldurchlauf traute ich mich sogar an die Magie heran und musste feststellen, dass es doch reizvoll sein kann, eine völlig andere Klasse auszuprobieren, im neuen Spezialgebiet das volle Potential auszuschöpfen und dadurch eine völlig neue Spielerfahrung zu erleben. So erschuf ich mir auch mal bei Dark Souls 3 eine Magierin, mit der ich sogar gut zurechtkam. Das gleiche Prinzip funktionierte als Druide bei „Das schwarze Auge“und als Bösewicht bei „Baldur´s Gate 3“. Natürlich verleitet der erstellte Charakter dann auch zu gewissen Aktionen, wobei die Gesinnung komplett unterschiedlich sein kann. Ein rechtschaffender Dieb, oder ein hinterlistiger Barbar? Oder doch lieber ein garstiger Hexer oder eine redegewandte Gnomin? Die Möglichkeiten sind endlos und Gegensätze auch nicht ausgeschlossen. Aber was machen diese Möglichkeiten mit uns?

Die simple Antwort: maximal Handlungsfreiheit bei minimalen Konsequenzen! Während man in der realen Welt mit seinen Entscheidungen leben muss und die Konsequenzen (teilweise auch langjährig) ausbadet, hat man hinter der Maske seines Charakters nur wenig zu befürchten. Im schlimmsten Fall versaut man sich seinen Spieledurchlauf, im besten Fall gewinnt man eine völlig neue Spieleerfahrung, indem man beispielsweise den Badass spielt. Simples Beispiel gefällig? In meinem dritten Durchgang von „Baldur´s Gate 3“ erschuf ich eine attraktive Elbin als Dark Urge, die innerhalb einer Aktion Astarion gekillt und somit eine stundenlange Questreihe komplett ausgelöscht hat. Auf der anderen Seite lernte ich neue Charaktere kennen, bekam völlig neue Dialogoptionen und meine Party hatte eine ganz andere Dynamik, als die harmonische Sitzung davor. Auch während des Spieldurchlaufs kann sich die eigene Gesinnung ändern; habe ich vorher absichtlich jeden verärgert, provoziert oder vermöbelt, so wurde ich im Spielverlauf zu einigen Charakteren offener und begab mich aus meiner (sonst abgrundtief bösen) Komfortzone. Dadurch haben ich und mein Spielecharaker gleichermaßen eine Entwicklung durchgemacht, die emotional eine völlig neue Dynamik ins Spiel gebracht hat.
Der Reiz daran ist die Frage, wie mein Umfeld reagieren würde, wenn ich mich rücksichtslos oder verrückt verhalten würde. Auch eine Prise (schwarzer?) Humor bringt frischen Wind in das eigene Spielverhalten und man wird definitiv sehr überrascht sein, welche Möglichkeiten sich eröffnen, wenn man mal mit einem (für sich) völlig gegensätzlichen Charakter spielt. Natürlich sollte das kein Freifahrschein für rücksichtsloses Verhaltens ein (besonders nicht im Online Modus mit anderen „echten“ Spielern); dennoch könnte es eigene Verhaltensmuster einmal aufbrechen, hinterfragen und die eigene Persönlichkeit weiter entwickeln lassen.

Was in Spielen funktioniert, macht auch vor sozialen Medien nicht Halt. Auf Insta, Facebook & Co begegnen uns sowohl echte Menschen als auch mittlerweile KI generierte Profile. Doch wer verbirgt sich hinter den Profilen? Ist die selbstbewusst wirkende Frau, die sich so freizügig gibt in Wirklichkeit eine schüchterne Person, die niemanden ansprechen würde? Sind die vielen Videos des Coaches wirkliche Auszüge aus seinem Leben, oder vielmehr, das Spiegelbild, das er gerne von sich hätte? Was treibt die Menschen an, die ihre Persönlichkeit im Internet präsentieren und wie viel davon ist real oder eher Wunschdenken? Ich persönlich halte es da eher zurückhaltend; während ich ausschließlich meine kreativen Projekte im Netz verbreite, lasse ich persönliche Dinge wie Beziehungen oder andere Menschen (außerhalb der Social Media Blase) komplett offline. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden. So amüsant die digitale Blase in Social Media ist, so findet das reale Leben doch meiner Meinung nach in erster Linie offline statt.

Zurück zu den Spielen: selbst als vorgefertigter Charakter (Beispiel: „Witcher 3“oder „Gothic“) kann man mit seinen Handlungen und Entscheidungen einen digitalen Fußabdruck seiner Identität hinterlassen. In Spielen finde ich es aufregend, mal einen neuen Spieldurchlauf mit völlig anderen Entscheidungen zu starten; selbst wenn ich mir dadurch das Erlebnis komplett verbaue, so entdecke ich entweder Neues oder weiß meine Entscheidungen vom ersten Durchlauf zu schätzen. Manchmal gewinnt bei mir das Motto „Weniger Grübeln, mehr Machen“ denn wo sonst als in Spielen kann ich ohne ernsthafte Konsequenzen moralische Grenzen austesten? Neben den Grenzen austesten, können Spiele aber manchmal auch das einzige Tor zu Außenwelt sein, in denen Vorurteile, körperliche Beeinträchtigungen und Schmerzen keine Rolle spielen. Ein emotional sehr beeindruckender Film dazu ist bei Netflix „The Remarkable Life of Ibelin“, den ich dringend ans Herz legen möchte. Jedes weitere geschrieben Wort erübrigt sich danach. Ein Blick auf unseren Artikel „Ghost in a Shell- Unsere Psyche in Videospielen“ wirft nochmal einen Blick auf die emotionalen Möglichkeiten, die unser Lieblingsmedium für uns bereithält. Auch wenn man im digitalen Leben seine Identität chamäleonartig wechseln kann, so kann dies dazu beitragen, im echten Leben eine starke und offene Persönlichkeit zu entwickeln. Ich würde mir jedenfalls wünschen, dass diese Möglichkeit bei vielen entdeckt und genutzt werden kann.