Zwischen Gabel und Kuchen
Mit dem Manga LIEBE AUF DER ZUNGENSPITZE präsentiert Mangaka An Momose eine stille, eindringliche Erzählung über Nähe, Identität und das Verlangen, wahrhaftig wahrgenommen zu werden.
Tatsunari ist ein selbstbewusster Oberschüler, der sich als „Gabel“ in einer Welt sieht, in der Menschen Geschmack entweder empfangen oder weitergeben können. Für ihn bedeutet das: Er schmeckt nichts – weder Essen noch Emotionen – außer, wenn er mit einem Kuchen in Berührung kommt.
Als er den stillen, introvertierten Naruse vor einem Unfall rettet, entdeckt er zufällig – und zu seinem Leidwesen –, dass Naruses Schweiß ihm etwas schenkt: Geschmack. Was zunächst wie eine merkwürdige körperliche Reaktion wirkt, entwickelt sich zu einer komplexen Beziehung, die sich über Jahre hinweg entfaltet.
Die Geschichte springt von der Schulzeit rasch in die Universität und begleitet beide Figuren durch Phasen von Nähe, Distanz, Missverständnissen und stummer Sehnsucht. Naruse bleibt dabei lange verschlossen und abweisend, während Tatsunari allmählich erkennt, dass sein Verlangen nach Geschmack nicht körperlicher, sondern emotionaler Natur ist. Er möchte Naruse verstehen, berühren, erreichen – ganz ohne körperliches Begehren. Doch wenn Nähe zur Abhängigkeit wird, bleibt die Frage: Kann man jemanden lieben, der sich entzieht?
Traumhafter Zeichenstil
Momose arbeitet bewusst reduziert – klare Linien, wenig Hintergrund, kaum visuelle Ablenkung. Diese Schlichtheit ist kein Mangel, sondern ein erzählerisches Mittel.
Die Leere vieler Panels spiegelt die emotionale Distanz zwischen den Figuren. Räume wirken steril, fast klinisch – als hätten auch sie keinen Geschmack –, bis Berührung ins Spiel kommt. Dann bricht Momose mit dieser Nüchternheit: Texturen werden dichter, Konturen kräftiger, der Raum füllt sich mit Leben.
Tatsunari ist als „Gabel“ kantig und in Bewegung, ausdrucksstark und zugänglich. Sein Lebensmut und seine Suche nach Bedeutung prägen ihn. Naruse hingegen bleibt weich, schemenhaft, verborgen hinter dicker Brille und geduckter Haltung – erst durch Tatsunari gewinnt er Kontur.
Momose erzählt Intimität in Nahaufnahmen: Hände, Münder, Blicke. Große Gesten fehlen – stattdessen sprechen kleine, subtile Details. Ein Zucken, ein Blick zur Seite, ein kaum wahrnehmbarer Abstand – das Unsichtbare wird sichtbar. Überladen wirkt hier nichts; alles ist fein austariert, leicht wie ein Atemzug.
Fazit: Geschmack als Metapher
LIEBE AUF DER ZUNGENSPITZE nutzt ein ungewöhnliches Konzept, um emotionale Nähe und soziale Rollen zu hinterfragen. Die Idee, dass Geschmack nur durch körperliche Verbindung entsteht, wird zur Metapher für das Bedürfnis nach echter Berührung und Anerkennung.
Wer sich auf das sogenannte „Cakeverse“ einlässt, findet hier eine stille, bittersüße Geschichte über das Erwachsenwerden – mit einem Hauch von Fantasie und viel Raum für Interpretation.
LILI SCHMIRGAL
Autor: An Momose
Zeichner: An Momose
Verlag: Panini
Seitenzahl: 196 Seiten
Verkaufsstart: veröffentlicht