Matterhorn auf Abwegen

In einer Welt, in der Manga oft zwischen Schulromanzen, Weltrettungsmissionen und Dämonenjagden pendeln, sticht RE CERVIN wie ein gotischer Monolith aus dem Nebel. Kosuke Hamadas düstere Fantasy-Geschichte verbindet religiöse Symbolik, historische Anklänge und eine Prise nihilistischen Humors zu einem Gesamtkunstwerk der etwas anderen Art.

RE CERVIN stammt aus dem Französischen und bedeutet „Matterhorn“. Der finstere Epos dreht sich um eine tiefgreifende Vater-Tochter-Beziehung und eine mystische Reise voller Gefahren und Abenteuer. Klingt erstmal nach einem melancholischen Roadmovie mit Schwertern, Magie und fantastischen Kreaturen – und irgendwie ist es das auch.

Die Geschichte beginnt in einer Welt, die von religiösem Fanatismus und politischen Intrigen durchzogen ist. Das Königreich Hellenthal wird ohne Vorwarnung von seinem Nachbarland angegriffen – das Königshaus wird komplett ausgelöscht, bis auf König Cervin und seine Tochter Alicnoe.

Das Feindesland Iria hat es auf den mächtigen Schattendrachen abgesehen, der unter der Burg versiegelt ist. Es gelingt ihnen zunächst, die Bestie zu befreien, doch die junge Prinzessin kann die Kreatur erneut bannen – im Austausch für alle Erinnerungen an ihren geliebten Vater. Cervin flieht mit seiner Tochter – in der Hoffnung, ihr Band durch neue Erinnerungen erneut zu schmieden und sein geschundenes Reich wieder aufzubauen.

Mehr als nur Fantasy

Der Titel verweist nicht zufällig auf das berühmte Matterhorn. Die Einflüsse des mittelalterlichen Europas sind allgegenwärtig. Burgen mit riesigen Wällen und Türmen, Dörfer mit ärmlichen Bauten und urtümliche Wälder bilden die Kulisse des Mangas.

Ideen aus der Zeit der Inquisition sowie der Kreuzzüge sind ebenfalls deutlich erkennbar. Ohne Rücksicht auf Verluste schlachten die feindlichen Armeen die friedliebenden Bürger dahin – einzig interessiert an der Macht, die unter der Burg schlummert. Die Doppelmoral, dass Drachen in der Bibel eigentlich den Teufel selbst darstellen, springt den Lesenden entgegen wie gespannte Pfeile.

Die Darstellung von Machtstrukturen, Dogmen, aber auch der spirituellen Suche der Figuren lässt sich mit historischen Epochen wie dem Hochmittelalter vergleichen, in denen Religion und Politik untrennbar miteinander verwoben waren – egal, wie ketzerisch geistliche Oberhäupter auftraten.

Düster ohne Depression

Kosuke Hamada, der eigentlich für seinen Sportmanga „Hanebado!“ bekannt ist, zeigt hier eine ganz neue Seite. War sein Vorgängerwerk eine Ode an Badminton, ist RE CERVIN definitiv eine Lobeshymne auf die Kunst und Geschichte des alten Europa.

Der detaillierte Zeichenstil verzichtet weitgehend auf den Einsatz von Rasterfolie und kommt ohne überbordende Opulenz aus. Der Stil wirkt barock und erinnert stark an Kohlezeichnungen des Mittelalters. Die Panels erscheinen wie kleine Gemälde, sind in ihrer Anordnung jedoch klar dem Manga-Stil verpflichtet.

Die männlichen Charaktere sind kantig – nicht nur im Design, sondern auch in ihrer Moral. Schroffe Ritter, brutale Feldherren; die Frauen hingegen sind zierlich bis stark weiblich und verkörpern Ruhe sowie den unbedingten Wunsch nach Freiheit. Klare Helden gibt es nicht – nur Menschen, die versuchen, in einem zerbrochenen Reich zu überleben.

Trotz der düsteren Thematik blitzt Humor an absurd-komischen Stellen auf – etwa wenn ein Priester aus purer Eitelkeit predigt oder ein Dämon die menschliche Dummheit verspottet, nur um im nächsten Moment hinterrücks erschlagen zu werden. Dieser Hauch von Zynismus sorgt dafür, dass trotz aller Schwere die Lachmuskeln zucken.

Fazit – für wen lohnt sich der Manga?

Wer Lust auf eine Geschichte hat, die es mit Genre-Konventionen nicht allzu ernst nimmt, sondern lieber mit Symbolik, Geschichte und menschlicher Abgründigkeit spielt, für den ist RE CERVIN die richtige Wahl. Es ist kein Werk für den schnellen Konsum, sondern eher ein Dinner mit sieben Gängen – und einem Beichtstuhl als Dessert.

LILI SCHMIRGAL