Die Bombe
Die Atombombe veränderte die Welt. Mit ihrer Zerstörungskraft löscht sie bei ihrem ersten Einsatz im Zweiten Weltkrieg durch die Amerikaner in Japan Menschen aus und hinterlässt nicht mehr als einen Schatten. Bis heute kämpfen Menschen mit den Folgen der Bombe. Ein Künstler-Trio widmet sich nun grafisch dem Werdegang der Bombe.
Eine Bombe dient dazu, Menschen zu vernichten, ein Objekt für Zerstörung und Tod – schnell und effizient, egal ob aus der Luft oder zu Boden. Aber sieht das eine Bombe selbst auch so? Die Graphic Novel DIE BOMBE verfolgt den Werdegang der ersten Atombombe – aus der Sicht der Atombombe selbst.
Diese agiert in dem Werk von Alcante, Laurent-Frédéric Bollée und Denis Rodier als Ich-Erzählerin und begleitet ihre Leserschaft durch die gesamte Geschichte: von den ersten wissenschaftlichen Entdeckungen bis zu ihrer eigenen Erschaffung und schlussendlich dem Abwurf über Hiroshima. Die Atombombe ist hier also nicht nur ein technisches Objekt, sondern ein Wesen, das ihre Entstehung und Wirkung hinterfragt, gar reflektiert.
Das fiktive Stück Militärtechnik kommentiert dabei die Handlungen ihrer verschiedenen Erschaffer aus Politik, Militär und Wissenschaft. Dabei ist sie fasziniert, versprüht sogar gewisse Ironie, doch sie erkennt schnell, dass sie keine gewöhnliche Bombe ist und bekommt früh eine düstere Vorahnung.
Laurent-Frédéric Bollée (Foto © Olivier Gall)
Bombastische Erzählweise
Mit dem Blick der Atombombe selbst auf die einzelnen Akteure schafft das Buch eine kritische Distanz. Die Frage nach Verantwortung und moralischer Schuld an dem geplanten Abwurf stellt sich, da die Bombe selbst nur ein von Menschen geschaffenes Werk ist, aber nicht selbst kontrollieren kann, wozu und wofür sie später genutzt wird – es liegt in der Hand ihrer Erschaffer.
Die Bombe tritt in dem Werk als ehrgeiziges Projekt auf, das unbedingt geschaffen werden muss – auf der anderen Seite dient sie als warnende Stimme, die ab einem Punkt weiß, zu welcher Zerstörung sie in der Lage ist. Mit den Augen der Bombe zu lesen, wirft eine andere Frage auf: Was können Macht, Gier und Fortschritt an Zerstörung bringen? Die Bombe selbst ist hier nur menschengemachtes Beiwerk.
Denis Rodier (Foto © Olivier Gall)
Bemerkenswert geschichtstreu
DIE BOMBE ist kein fiktives Werk, wenngleich die Ich-Perspektive der Bombe genau das vermuten lässt. Die Graphic Novel ist ein ernsthaft recherchiertes, geschichtsträchtiges Werk, das viele Fakten über den Bau der tödlichen Atombombe offenbart.
Am Anfang steht die Kernspaltungsforschung, es folgt das Manhattan-Projekt bis hin zum Abwurf der Bombe über Hiroshima und Nagasaki. Die Chronologie der Ereignisse wird historisch präzise und darüber hinaus leicht verständlich verpackt und wiedergegeben – eine Bombe ist ja kein Wissenschaftler.
Die Wissenschaftler kommen natürlich auch zu Wort: Genie Albert Einstein, Physiker Robert Oppenheimer und Physiker Leó Szilárd – alles Wissenschaftler, die an der Bombe direkt oder indirekt beteiligt sind; Politiker wie Theodore Roosevelt und Harry S. Truman sind realitätsnah dargestellt. Dazu porträtiert die Bombe die inneren Konflikte der Akteure, ihrer politischen, aber auch wissenschaftlichen Entscheidungen.
Eine Bombe wäre keine Bombe ohne die richtige Bauweise. Auf eine Atombombe trifft das noch mehr zu, immerhin ist sie komplex. Verständlich und exakt erklärt, geht die Graphic Novel auf die Funktionsweise ein. Dabei reflektiert sie nicht nur die physikalischen Grundlagen, sondern geht tiefer auf historische Begebenheiten wie den Uranabbau in den Shinkolobwe-Minen in der Provinz ein, wo bis heute aufgrund schlechter Schutzmaßnahmen ganze Wohngebiete kontaminiert sind.
Schlussendlich reflektiert die Bombe ihre eigene Zerstörungskraft. Das traurigerweise bekannte Bild vom Schatten eines Menschen, der unmittelbar am Einschlagpunkt der Bombe sein Leben ließ, zeigt, dass mehr nicht verblieb als ein Schatten. Die Meere an Leichen, Menschen mit hängenden Hautfetzen und verstümmelten Körpern sind erschreckend genau gezeichnet.
Alcante (Foto © Olivier Gall)
Ein wenig Fiktion muss sein
DIE BOMBE als Schaffenswerk ist eine Novel und erzählt fundiert die Entstehung der Atombombe – ein Fiktionselement gönnt sich das Autorentrio trotz aller Ernsthaftigkeit. Da wäre die Bombe selbst, die im normalen Leben natürlich weder sprechen noch selbst denken oder gar moralisch hinterfragen kann.
Verschiedene Nebenfiguren und Szenen werden eingefügt – sie schenken der Erzählung Tiefe und Nachdruck. Beispielsweise geht die Novel auf die fragwürdigen radioaktiven Experimente ein, die in den USA an ahnungslosen Patienten durchgeführt wurden. Einzelne Szenen und Dialoge sind fiktiv, verleihen der Erzählweise aber mehr Dimension.
Weiterhin erzählt der Schatten auf der Treppe Hiroshimas eine eigene, kleine Nebengeschichte. Sein Abdruck, durch die Hitze regelrecht in die Treppe eingebrannt, ist dokumentiert, seine Geschichte kaum – die Graphic Novel gibt hier einem anonymen Opfer ein Gesicht und eine Stimme, gleichwohl es Fiktion ist.
Graphic Novel mit Ernsthaftigkeit
Trotz der Schwarz-Weiß-Zeichnung ist DIE BOMBE kein typischer Manga, wie sie aus Japan bekannt sind. Er erinnert eher an alte amerikanische Comics der 40er Jahre, wie etwa „Batman“ – passend zur Zeit, in der „Die Bombe“ spielt.
Der realistische Stil schafft ausdrucksstarke Figuren, die weder überzeichnet noch überspitzt wirken. Eher ist es, als würden die Augen alte Fotografien begutachten, die in Schwarz-Weiß überführt wurden. Auf Rasterfolie oder den Einsatz übertriebener Effekte wird gänzlich verzichtet, stattdessen bedient sich das Trio der Tusche, arbeitet aber auch hier eher gedämpft. Die düstere Atmosphäre der Graphic Novel unterstreichen sie damit.
Viele Panels pro Seite schaffen einen rasanten, mit Informationen gefüllten Erzählstil. Vielleicht liegt das an der Erzählerin: die Bombe ist eben kein Wesen mit einem langen Leben vor ihrem Abwurf. Schnelle Szenenwechsel – von einer politischen Sitzung etwa in die Minen bis hin zu Einzelschicksalen wie dem Mann auf der Treppe – emotional und poetisch erzählt, verliert die Bombe dabei aber niemals ihren dokumentarischen Charakter.
Fazit
DIE BOMBE ist eine Mischung aus geschichtlicher Präzision und visuellem Ernst. Keine überspitzten Übertreibungen, sondern narrative Echtheit dominieren die Graphic Novel von der ersten bis zur letzten Seite. „Die Bombe“ ist kein Manga aus Japan, sondern eine europäische Novel, erschaffen von geschichtsliebenden Zeichnern. Fans von historisch gezeichneten Werken wie „Maus“ von Art Spiegelman oder „Persepolis“ von Marjane Satrapi werden DIE BOMBE zu schätzen wissen.
Die Graphic Novel wurde uns freundlicherweise von Carlsen für diese Review zur Verfügung gestellt.
LILI SCHMIRGAL
Autoren: Alcante, Laurent-Frédéric Bollée, Denis Rodier
Genre: History, Drama
Verlag: Carlsen
Seiten: 450 Seiten
Datum Ersterscheinung: 30. Juni 2020