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Das zu Ende gehende Jahr war für die meisten ein schwieriges und für alle ein außergewöhnliches. Comics und Graphic Novels haben für Ablenkung und Zerstreuung gesorgt. Ich lasse das Jahr Revue passieren und stelle euch meine Lieblinge (in unsortierter Reihenfolge) kurz und knapp vor:

Lobende Erwähnung 1: ABTEILUNG FÜR IRRE THEORIEN (Edition Moderne)

In einem Jahr, das mehr wissenschaftliche Kennzahlen brachte, als uns lieb sein konnte, bot Tom Gaulds ABTEILUNG FÜR IRRE THEORIEN den passenden ironischen Blick auf den Wissenschaftsbetrieb. Mit diesem Best-of seiner Strips für das britische Magazin „New Scientist“ lässt er uns hintersinnig und mit klugem Witz über Forschende und wissenschaftliche Verfehlungen schmunzeln.

Lobende Erwähnung 2: SOMMERHAUS AM SEE (Jacoby & Stuart)

Schafft es nur deswegen nicht in die Top 5, weil es eigentlich ein Bilderbuch ist. Autor Thomas Harding und Illustratorin Britta Teckentrup bieten ein Panorama Deutschlands im 20. Jahrhundert, erzählt anhand des titelgebenden Häuschens, das wie seine wechselnden Bewohner immer wieder in die Wirren deutscher Geschichte hineingezogen wird. Ein Bilderbuch für Heranwachsende und Erwachsene mit abwechslungsreichen und ausdrucksstarken Bildern.

SCHLOSS DER TIERE, Band 1 (Splitter)

Empfahl sich bereits in Sommer als einer der besten Comics des Jahres. Die Fabel, inspiriert von Orwells „Animal Farm“, ist nicht nur als Hommage, sondern auch für sich ein erzählerisch starkes (Comic-)Kunstwerk. Statt Schweinen wie bei Orwell ist es hier ein Stier, der über die anderen Tiere herrscht und ihnen die Früchte ihrer Arbeit abpresst. Doch die junge Katzendame Miss Bengalore trifft eines Abends einen Besucher, der ihr Hoffnung gibt. Man kann dieses Album kaum beiseitelegen, denn selten schafft es ein Comic, Tiere in ihren Motivationen so zugänglich darzustellen, ohne das ernste Thema zu verniedlichen. Band 2 ist gerade erschienen und sollte nach Lektüre des ersten Bandes unbedingt zur Hand genommen werden. Eine tierisch gute Dystopie!

DON ROSA LIBRARY (Egmont)

Ernsthafte und glaubwürdige tierische Protagonisten sind auch die Handschrift von Don Rosa, Zeichner-Legende der „Duck“-Comics. Neue Geschichten von ihm gibt es nicht mehr; dafür aber seit 2020 die DON ROSA LIBRARY als neue, auf 10 Bände angelegte Gesamtausgabe. Alle Geschichten Rosas mit Dagobert und Donald sind hier chronologisch in der vom Künstler selbst bevorzugten Kolorierung und Aufmachung enthalten, ergänzt um allerlei Kommentare, Skizzen, Titelbilder und Hintergrundtexte von Rosa selbst.

ÜBER SPANIEN LACHT DIE SONNE (Reprodukt)

Kitty moderiert in ihrem Nebenjob User-Kommentare für ein deutsches Onlinemedium. Zeichnerin Kathrin Klingner verarbeitet zugleich humorvoll und bedrückend das Thema Hass und Hetze im Internet. Man bekommt eine kleine Ahnung, wie es wohl ist, jeden Tag diesen Müll lesen zu müssen; trotzdem schafft es Klingers Protagonistin, nicht selbstmitleidig zu wirken – selbstironisch aber sehr wohl. Sie liest, sie klickt; ob sie löscht, wissen wir nicht. Dabei schafft Klinger durch authentische Gespräche zwischen Kittys Kollegen ganz nebenbei ein gesellschaftliches Portrait der „Generation Aushilfe“. Ihre feine Beobachtung des Zwischenmenschlichen gibt der bedrückenden Thematik etwas Erfrischendes.

THEY CALLED US ENEMY (Cross Cult)

Dass Cross Cult mehr zu bieten hat als SciFi- und Action-Comics, bewiesen die Ludwigsburger in 2020 mit gleich zwei brillanten biografischen Graphic Novels. Eine davon: die Erinnerungen von „Star Trek“-Legende George Takei. Als Sohn japanischer Einwanderer in den USA lebte er als Kind in Internierungslagern, die nach dem Angriff auf Pearl Harbor entstanden. Individuell und subjektiv – ohne den Anspruch, für alle Betroffenen zu sprechen – und dennoch stets mit historischem Kontext, fesselt THEY CALLED US ENEMY und zieht zudem deutliche Parallelen zur heutigen Politik der USA, mit Lagern an der südlichen Grenze. Ein erschreckend aktueller Comic über Ausgrenzung und Rassismus, der sehr zu Recht mit einem Eisner-Award prämiert wurde.

BALD SIND WIR WIEDER ZU HAUSE (Cross Cult)

Auf Basis von Interviews erzählt diese schwedische Produktion die Geschichten von sechs Überlebenden des Holocaust. Sie alle waren noch Heranwachsende, als die NS-Verbrecher ihre Familien trennten und sie in Ghettos und später in Konzentrationslagern landeten. In einfacher Sprache gehalten und darum auch für junge Leser verständlich, meistert dieser Comic den schmalen Grat zwischen Vereinfachen und Verharmlosen. Die Rückblicke werden mit ausdrucksstarken Texten und enorm intensiven Bildern erzählt – und das ohne dass die Zeichnungen versuchen, fotorealistisch zu sein. Ein aufwühlender Comic mit einer klaren Botschaft: „Eine Generation ohne historische Bildung ist schutzlos, wenn es darum geht zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.“

FRANK KALTOFEN